Hier ein paar untypische »Heimatbücher«, die ohne Bergkulisse und Landarzt-Romantik auskommen. Wir stellen euch Bücher und Autor*innen vor, die das »Deutschsein« neu definieren. Sie erzählen davon, wie es sich anfühlt, mit Migrationshintergrund in einem weißen Alltag aufzuwachsen, in den Gegenden, die wir so gerne bereisen. Mal mit Humor, mal bitterernst – in jedem Falle unverfälscht und mit dringender Leseempfehlung.
1. Heimatgefühle
Eine Sammlung mit gleich vierzehn Perspektiven von deutschsprachigen Autor*innen, die das romantische Heimatbild ins Wanken bringen. Ein Manifest gegen die Heimat, einem völkisch verklärten Konzept, das längst nicht mehr zeitgemäß ist. Das Buch denkt und fühlt über die Grenzen hinaus und macht dabei die deutschen Schranken sichtbar. Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah sammeln in »Eure Heimat ist unser Albtraum« verschiedene Beiträge, die es schaffen, die rassistischen und antisemitischen Strukturen unserer Gesellschaft ins Scheinwerferlicht zu rücken, schonungslos und wenig schmeichelnd. Die sehr persönlichen Essays stammen unter anderen von Sharon Dodua Otoo, Reyhan Şahin, Margarete Stokowski und Deniz Utlu. Yaghoobifarah schreibt selbst unter anderem für die taz und stand zuletzt wegen ihrer Polizei-kritischen Kolumne und einer darauf folgenden Strafverfolgungsandrohung durch Horst Seehofer in der Presse, dem Bundesminister für Inneres, Bau und Heimat…
»Eure Heimat ist unser Albtraum« von Fatma Aydemir & Hengameh Yaghoobifarah, 208 Seiten über Ullstein fünf
2. Deutsches Nachschlagewerk
Hier ein Standardwerk für die Lehre und den Diskurs zum strukturellen Rassismus in Deutschland: Wer wissen möchte, wo der oft so klein geredete Alltagsrassismus anfängt und wann und vor allem warum auch Institutionen wie »Langenscheidt« oder »UNICEF« hin und wieder ihr Verhalten überdenken sollten, greift bitteschön zu »Deutschland Schwarz Weiss« von Noah Sow. Erstmals erschienen ist der Titel 2008 im C. Bertelsmann Verlag, zehn Jahre später hat die Autorin das Buch selbst umfangreich überarbeitet und ergänzt. Die Aktivistin hört beim rassischtischen Grundrauschen ganz genau hin, zeigt und erklärt an Praxisbeispielen, wie es anders laufen könnte und sollte in einer Gesellschaft, in der doch laut Grundgesetz kein Mensch wegen seiner Herkunft oder Sprache diskriminiert wird. Aufgewachsen in Bayern, hat sie kürzlich auch den ersten afrodeutschen Heimatkrimi »Die schwarze Madonna« herausgebracht, war ja auch mal an der Zeit!
»Deutschland Schwarz Weiss« von Noah Sow, 344 Seiten über Books on Demand
3. Dialekt unter Vorbehalt
Wer David Mayonga aka Roger Rekless schon einmal live erlebt hat weiß, wie schnell seine offene Art ansteckt. Der Tausendsassa ist unter anderem Rapper, Moderator, Sozialpädagoge, Frontmann einer Hardcoreband…und vor allem in keine Schublade zu stecken. Doch genau durch solches voreingenommenes Denken scheint seine Kindheit bestimmt zu sein: Aufgewachsen in einer bayerischen Provinz spricht er nicht nur im typischen Dialekt, sondern auch gegen viele eintönige Ansichten seiner Mitmenschen. Schon am ersten Tag im Kindergarten wird er mit den Worten begrüßt, die schließlich der Titel zu seinem Buch werden sollten. »Ein N**** darf nicht neben mir sitzen« erzählt mit Blick ins Familienalbum von Alltagsrassismus, Polizeikontrollen und Ausgrenzung. Seine Worte sind echt und fühlen sich manchmal wie ein Faustschlag in die Magengrube an – das ist der ungeschönte Rekless-Style, den wir so feiern.
»Ein N**** darf nicht neben mir sitzen« von David Mayonga, 240 Seiten über Komplett-Media
4. Auf die Ohren
In manchen Situationen wünscht man sich eine Alice Hasters an der Seite: Dann, wenn die Kneipenpolemik überhand nimmt oder die lieben Eltern wieder einmal einen unangebrachten Kommentar zum aktuellen Weltgeschehen bringen. Am liebsten würde man diesen Menschen ohne viele Worte ihr Buch »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen« in die Hand drücken, mit einer fetten roten Schleife drumherum. Denn hier finden wir die Antworten darauf, warum Fragen wie »Woher kommst du eigentlich«, »Darf ich mal deine Haare anfassen« und »Bekommst du eigentlich Sonnenbrand« mehr als nur daneben sind. Aber auch solche Leute, die sich selbst als »woke« beschreiben würden, können von Hasters noch einiges lernen. Am besten gleich regelmäßig: In ihrem Podcast Feuer & Brot mit Maxi Häcke geht es um Themen wie White Saviorism, kulturelle Aneignung und echte »Allyship«. Das Buch von Alice Haster gibt es momentan auch auf Spotify zu hören – am besten gleich Link kopieren, selbst anhören und weiterleiten.
»Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen« von Alice Hasters, 208 Seiten über hanserblau
5. (K)eine unter vielen
Wie fühlt es sich an, Ende der 1980er als Tochter einer DDR-Punkerin und eines Gaststudenten aus Angola in Ostdeutschland aufzuwachsen? Was bedeutet es, Schwarz und lesbisch zu sein? Olivia Wenzel hat dafür eine 352-seitige Antwort parat und erzählt uns in ihrem Debütroman »1000 Serpentinen Angst« vom Anderssein in einem homogenen Einheitsbrei. Ihre lebendige Erzählform nimmt uns direkt mit auf eine Reise durch die weiße Mehrheitsgesellschaft und ihre vielfältigen Ausgrenzungsformen: »Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen.« Dabei ist das Buch als Autofiktion zu verstehen, eine Vermengung von Fiktion und ihrer eigenen Autobiografie. Wer sich noch mehr Ladung Wenzel wünscht, sollte sie auch als Musikerin und Theaterautorin (darunter Münchner Kammerspiele, Hamburger Thalia Theater, Ballhaus Naunynstraße) auschecken.
»1000 Serpentinen Angst« von Olivia Wenzel, 352 Seiten über S. Fischer
6. Gegenparole
Wer nicht aus dem NDR-Sendegebiet kommt und deswegen vielleicht erst im Netz nach Michel Abdollahi suchen muss, wird schnell merken, dass man diesen Mann unbedingt kennenlernen sollte. Nicht zuletzt wegen seiner Dokumentation »Im Nazidorf« von 2015, in der er einen Monat lang in Jamel in Mecklenburg-Vorpommern verbrachte, um mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Mit seinem Buch »Deutschland schafft mich«, einer Anspielung auf das 2010 erschienene Pamphlet von Thilo Sarrazin, beschreibt der gebürtige Iraner seine Kindheit in Hamburg und wie der Anstieg der AfD sein Image als »Vorzeige-Migrant« zum bröckeln brachte. »Als ich erfuhr, dass ich kein Deutscher bin«, steht es weiter auf dem Buchcover – ein Satz der stellvertretend für dieses ohnmächtige Gefühl der Fremdbestimmung steht. Wer oder was macht wen zum Deutschen? Ein direkte Antwort gibt es darauf nicht, dafür aber sehr persönliche Einblicke und Denkanstöße des sympathischen »Hamburger Jung«.
»Deutschland schafft mich« von Michel Abdollahi, 256 Seiten über Hoffmann und Campe
7. Mächtige Worte
Wer zu diesem Buch von Kübra Gümüşay greift, kann sich auf eine sprachliche Reise quer durch Europa und die Welt freuen. Jedes Kapitel liest sich wie eine ganz besondere Melodie, der Klang jedes Wortes ist mit Bedacht gewählt, ganz so wie es die junge Frau aus dem türkischen und arabischen kennt. »Sprache und Sein« macht auf die Grenzen und Möglichkeiten unserer Worte aufmerksam. Wie drücken wir uns aus, wenn uns wortwörtlich das Vokabular dafür fehlt, die Begriffe nicht eindeutig sind und man durch diese Verschwommenheit in der Masse untergeht? Gümüşay erzählt von Stereotypen, Barrieren und Hindernissen im Alltag, die uns ständig umgeben und doch nicht immer sichtbar sind. An Beispielen, die man so schnell nicht mehr vergisst, lernen wir, wie die Macht der Sprache unser Denken prägt und auch Einfluss auf die Politik nimmt. Sie zitiert dabei viele Autoren und Dichter, nur einen wollte sie im Nachhinein wieder streichen und entschuldigte sich dazu im Netz: Necip Fazil Kisakürek - türkischer Schriftsteller und antisemitisch-islamistischer Ideologe.
»Sprache und Sein« von Kübra Gümüşay, 208 Seiten über Hanser Berlin
→ Mehr zum Thema »Heimatgefühle« findet ihr in diesem sehr persönlichen Beitrag aus der »Draussen«-Redaktion
Foto: Valerie Siba Rousparast, Illustration: Anky Brandt